Nobelpreis für Literatur 2016

Thorgeir schrieb:
http://www.nytimes.com/2016/10/13/opinion/why-bob-dylan-shouldnt-have-gotten-a-nobel.html

!

Um mal nicht Meinungspingpong zu spielen sondern selber zu denken.
Ich finde den Artikel sehr schwach:
Dass der Literaturnobelpreis irgendwie der Leseförderung dienen soll, bzw. als wirtschaftliche Entwicklungsmaßnahme oder Subvention für Schriftsteller und Verlage gedacht ist, ist eine steile These.
Ähnlich bescheuert ist die Feststellung, dass Bob Dylan den Preis nicht braucht. Klar der bis auf eine olympische Medallie im modernen Fünfkampf so ziemlich alles gewonnen, aber ein Preis der sich selbst als höchste Auszeichnung für ein Lebenswerk sieht, wird man ja kaum an einen Newcomer vergeben können. Bei den Anforderungen des Literaturnobelpreises ist es schon sehr wahrscheinlich, dass der ´Gekürte vorher auch anderen Jurys positiv aufgefallen ist.
Besonders blöde ist die Idee, dass ja auch niemand Zadie Smith in die Rock n Roll Hall of Fame aufnehmen würde ... warum eigentlich nicht, wenn sie Musik zu ihren Romanen macht (die ich übrigens für ziemlich gut halte)?
Das Argument, dass populäre Musik schon genug Aufmerksamkeit habe, kann man auch weitertreiben, Nobelpreis nur für Dinge die wirklich niemanden interessieren?
Und zu unterstellen, dass das Komittee mit der Wahl Bob Dylans die Relevanz des Preises für ein jüngeres Publikum erhöhen will, heißt die Leute in Stockholm für völlig bekloppt zu halten oder eine merkwürdige Definition von "jünger" zu verwenden.
 
Rabe schrieb:
Das Argument, dass populäre Musik schon genug Aufmerksamkeit habe, kann man auch weitertreiben, Nobelpreis nur für Dinge die wirklich niemanden interessieren?

Nun, wir reden ja nicht vom populären Musik-Aufmerksamkeits-Nobelpreis, sondern von literaturselbigem.

Die Frage ist doch, wieweit verwässern wir diese Vorgabe ("Literatur-"), dass wir jemanden wie Dylan aufnehmen können?

Das macht man nur aus folgenden Gründen: Entweder möchte man, dass endlich Dylan auch als Literat wahrgenommen und gefeiert wird *mit dem Fuß aufstampf* (sprich, da sitzen echte Fans in der Jury) oder, man möchte das Feld erweitern. Nochmal: Ein Musik-Nobelpreis wäre dann die bessere Wahl gewesen. Das gäbe erheblich weniger Grabenkämpfe. So wirkt das verkrampft, und das hat der Nobelpreis nicht verdient.
 
Es gibt wohl kaum einen Musiker, der mehr Texte und Songs geschrieben hat als Bob Dylan. Und wenn man sich damit beschäftigt, muss man anerkennen, dass er es oft geschafft hat in 4 Zeilen mehr Wahrheit unterzubringen, als andere auf 400 Seiten. Und das nicht nur vor 30 Jahren, sondern auch in neuerer Zeit.
Dazu kommt, dass er die Art des Songwriting nachhaltig geprägt hat und Vorbild für viele war. Insofern geht das mit dem Nobelpreis für mich völlig in Ordnung.
 
Ich verstehe nicht das Problem mit Songtext und Literatur. Natürlich sind Songtexte Literatur, natürlich hat sich die Literaturwissenschaft mit Songtexten beschäftigt. Minnesänger und Biermann , Brecht Texte für die Dreigroschenoper, das ist alles Literatur. Ich habe ihn den 90ern ein Hauptseminar über Popsongtexte belegt, über Den Literaturstatus gibt es da überhaupt keine Uneinigkeit. Natürlich gibt es diese Literatur auf unterschiedlichen Anspruchsebenen, wie bei Romanen, die ja auch zwischen Pilger und Joyce viel Raum lassen.
 
Anders als in den Naturwissenschaften ist in der Literatur (natürlich in der Musik auch und in der Kunst generell) das Werk nicht von der Person des Künstlers zu lösen. Deswegen schwingt bei solchen Entscheidungen und den Kommentaren dazu immer auch persönliche Sympathie/Antipathie mit, die man dann halt argumentativ zu untermauern sucht. Und manchmal auch ein Stück Politik. Wie oben schon geschrieben mag ich persönlich Bob Dylan als Person nicht, finde manche Songs aber gut - vor allem wenn sie "von der Person Bob Dylans gelöst" von anderen interpretiert werden. Das macht es mir offensichtlich leichter.. ;-) Sein Werk ist wohl tatsächlich auch Literatur - aber für einen großen Literaten halte ich ihn trotzdem nicht. Aber das war auch bisher nicht bei allen Literaturnobelpreisträgern der Fall. Es ist und bleibt eben eine Frage des Geschmacks und der Sympathie.
 
Ich plädiere dringend dafür, daß Werk sehr wohl vom Autor zu lösen und das tut die Literaturwissenschaft auch. Nur das schlechtere Feuilleton nicht.

"Wahrheit" ist ein interessanter Begriff hier.

Meiner Ansicht nach ist Literatur das Verarbeiten und deuten von Wahrheit oder möglichen Wahrheiten. Nicht das reine Beschreiben der einen einzigen.

Wenn das Dylans Verdienst sein soll, müsste er einen Preis für Journalismus kriegen (der zufällig in Lyrikform geliefert wird), nicht Literatur.
 
groby schrieb:
Ich plädiere dringend dafür, daß Werk sehr wohl vom Autor zu lösen und das tut die Literaturwissenschaft auch. Nur das schlechtere Feuilleton nicht.

"Wahrheit" ist ein interessanter Begriff hier.

Meiner Ansicht nach ist Literatur das Verarbeiten und deuten von Wahrheit oder möglichen Wahrheiten. Nicht das reine Beschreiben der einen einzigen.

Wenn das Dylans Verdienst sein soll, müsste er einen Preis für Journalismus kriegen (der zufällig in Lyrikform geliefert wird), nicht Literatur.
Na ja, ich glaube einfach, der auf Kunst angewendete Wahrheitsbegriff ist ein etwas anderer. Und wenn das Werk durch Form seine Relevanz gewinnt, spräche m.E. auch nichts dagegen, es sowohl als auch einzuordnen, bei Kisch ist das idealtypisch der Fall.
 
Das hiermal besorgen, reinlesen, und dann mal über Dylan und Literatur sinnieren.

Heute morgen kam eine tolle Sendung auf hr1 mit Werner Reinke, der mit seiner markanten Stimme übersetzte Texte gelesen hat - das waren drei Stunden (während dessen ich im Garten Hecken runtergeschnippelt hab), die richtig klasse waren. Dazu Coverversionen anderer Interpreten, zB eine tolle Version von Eddie Brickell & The New Bohemians von "A hard rain´s a gong fall":
[youtube]https://youtu.be/kgpF5VjWO34[/youtube]
Toller Text, oder?!
 
Ist zwar nicht ganz on topic, aber trotzdem:

groby schrieb:
Ich plädiere dringend dafür, daß Werk sehr wohl vom Autor zu lösen und das tut die Literaturwissenschaft auch.

Tut die Literaturwissenschaft das wirklich? Teilweise kann man natürlich formale Strukturen analysieren, aber Sprache, Inhalt, Interpretation etc. lassen sich nicht vom Autor, der Epoche, seinem Leben generell und der Situation in der das jeweilige Werk entstanden ist so ohne weiteres lösen. Manchmal mag es die pure Sprache oder die Raffinesse des Versmaßes sein, die beeindruckt. Manchmal ist ein Werk (obwohl vielleicht einfach und unspektakulär geschrieben) erst aufgrund der Autorschaft epochal, vielleicht aufgrund der Botschaft, weil es das erste seiner Art war, aufgrund der Folgen die es möglicherweise hatte. Paradebeispiel "Mein Kampf". Einmal programmatisches Pamphlet, von irgendwem geschrieben wäre es unbedeutend geblieben, weil es eben A.H. war folgenschwer. Und gelesen von Helmut Qualtinger - fast schon skurriles Kabarett. Auch wenn einem das Lachen manchmal im Halse steckenbleibt..
 
Sorry aber "Mein Kampf" als repräsentatives Beispiel? Ist jetzt auch nicht mal Literatur nur weil es auf Papier steht.

Na, egal.

Innerhalb der Literaturwissenschaft gibt es viele Strömungen. Diejenigen die ein Werk immer nur durch den Autor betrachten, sind dabei eher banal. Und in ihrer Aussagekraft begrenzt.
Das ist eher eine Wissenschaft durch Klatsch und Tratsch. Weil es immer leichter ist, über konkrete Leute zu tratschen als über abstrakte Ideen zu diskutieren.

Die Frage stellt sich dabei - was den Wahrheitsbegriff betrifft - ist etwas nur dann wahr, wenn es reell passiert oder autobiographisch ist oder auch dann, wenn es abstraktere oder sogar nur mögliche Wahrheiten enthält. Oder - erst dann wird es in der Literatur sehr spannend - wenn von Wahrheit oder Wahrhaftigkeit nicht gesprochen werden kann weil es eine im wahrsten Sinne fantastische Welt aufbaut.

Was ist denn autobiographisch an Haruki Murakami? Was ist "wahr" daran? Warum brauche ich Zeit und Autorfigur dafür?
 
Natürlich kann man einen Text vom Autor und von einigen anderen Dingen getrennt betrachten und es wird auch getan. Die Frage ist, wozu ich diesen Text betrachte, was ich in ihm sehen und suchen will. Von einem Kunstwerk verlangen die meisten bürgerlichen Kunsttheorien, dass es autonom sei, mithin also losgelöst von Erschaffer, Zeitkontext und evtl. Paratext Relevanz besitzt. Von einem Textkunstwerk wird ähnliches verlangt. Dieses Konzept wird allerdings immer wieder angegriffen, z.B. wenn die Dadaisten Kunst in Lebenspraxis übersetzen wollen. Auch im Rock/Popsongtexte wird dieses Konzept häufig abgelehnt, u.a. mit Bezug auf die Beatpoeten. David Bowie z.B. produzierte m.E. unbestreitbar Kunst, irgendeinen Song als autonomes Werk zu analysieren würde aber dem Schaffen Bewies nicht wirklich gerecht. Wie es bei Bob Dylan ist, weiß ich nicht, weil ich mich damit nicht beschäftigt. Meine oberflächliche Beobachtung der Dylanforschung, erweckt aber den Eindruck das es möglich ist. Rolfs Leseaufforderung verstärkt diesen Eindruck. Vielleicht mal machen, iss ja ohne Gehöre und Mundharmonika.
 
Ja, "Mein Kampf" als Beispiel, dass der Kontext zählt. Auch sorry. Und über die "Poetik des Nationalsozialismus" (eine literaturwissenschaftliche Analyse von "Mein Kampf") habe ich vor kurzem ein interessantes Buch gelesen..

Bei aller Wertschätzung, was Literatur ist und was nicht bzw. welche Strömungen banal sind und welche nicht, das definierst du, Groby?

Der Streit, was als "Literatur" Anerkennung finden soll und was nicht, ist so alt wie die Literaturgeschichte selbst. Und Wissenschaft an sich ist der Versuch sich der Wahrheit durch Trial and Error so objektiv wie möglich zu nähern. Der Weg ist grundsätzlich völlig frei, einziges Korrektiv ist die systemimmanente Kritik der anderen und der Ausschluss eines endgültigen Wahrheitsanspruchs. Und ob es, und da wären wir bei meinem Ausgangsposting, in der Kunst ganz allgemein eine letztgültige und dauerhafte Definition geben kann, was "echte" Kunst ist, und was nicht, das bezweifle ich vehement.

In einem Punkt bin ich aber absolut deiner Meinung: man muss es wirklich nicht immer kompliziert machen, man kann manchmal Bücher auch einfach nur lesen..
 
bei aller Wertschätzung, was Literatur ist und was nicht bzw. welche Strömungen banal sind und welche nicht, das definierst du, groby..

Naja, was banal ist, ja, durchaus: das entscheide ich.

Das klingt arrogant aber diese dauernde Relativierung, dass man besser keine starke Meinungen äußern dürfe, weil: könnte ja nachher jemand weinen weil man ihm was madig geredet hat, ach, das finde ich grässlich. Alles ist beliebig und gleichwertig? Nein, bitte nicht. Ein Hoch auf die Arroganz, Dinge in töfte und Panne zu unterscheiden.

Und jetzt mal ehrlich: Haruki Murakami lesen oder meinetwegen JK Rowling oder John Updike oder Josef Saramago (Nobelpreis 1998) und dann fragen, ob das auch wohl biographisch ist oder was davon "wahr" (womit die Leute meinen: ist historisch passiert) ist leider die banalste und je nach Buch sogar die dümmste aller Reaktionen. Sie engt auch extrem ein weil sie (fast schon etwas, na sagen wir: faschistisch) letztlich auf eine einzige und einzig richtige Textinterpretation hinaus will. "Was will der Autor damit sagen?"

Literatur ist hoffentlich zu anderem und mehr fähig als zu dem, was Tagebücher, Autobiographien oder Reportagen besser können.

Naja. Bob Dylan hat jetzt einen Literaturnobelpreis.

Klingt immer noch absurd. Aber wenigstens wird der Preis dadurch etwas volksnäher und offener. Mal ein Preisträger mit dessen Namen auch mal normale Bürger was anfangen können, nicht nur die leicht angeschimmelte Feuilleton-Elite unter sich. Warum auch nicht.
 
Moment, ich weiß nicht aus welcher meiner Aussagen du das rausgelesen hast.
Weder bin ich ein Fan von Autobiographien und historischen Wahrheiten, noch sind mir Murakami noch Saramago fremd.

Nicht, "was will der Autor damit sagen". Sondern: je komplexer das Werk, desto mehr möchte ich verstehen, in welchem Kontext ist das Buch entstanden, in welcher Zeit, in welcher Lebensphase, was war damals kulturell und generell angesagt, was u.U. verboten und völlig abwegig. Ob das autobiographisch ist oder nicht ist mir völlig wurst. Das meine ich mit "nicht vom Autor zu lösen". Ob mir der Autor sympathisch ist oder nicht beeinflusst, ob bewusst oder unbewusst, meine Rezeption aber sehr wohl. Houellebecq finde ich z.B. einen relativ kranken Typen, manche Bücher von ihm (Möglichkeit einer Insel z.B) sind schrecklich öde, andere (Unterwerfung!) finde ich trotz meiner Antipathie klasse. So geht's mir auch ein wenig mit Bob Dylan... ;-)

Abgesehen davon finde ich pointierte Meinungen und Aussagen in der Regel sehr erfrischend, nur Leute, die zwischen der eigenen Meinung und dem absoluten Wahrheitsanspruch nicht unterscheiden können, sind ... schwierig. (Nicht, dass ich dich in dieser Kategorie sehen würde, aber obige Aussage ging zumindest etwas in diese Richtung).


groby schrieb:
Klingt immer noch absurd. Aber wenigstens wird der Preis dadurch etwas volksnäher und offener. Mal ein Preisträger mit dessen Namen auch mal normale Bürger was anfangen können, nicht nur die leicht angeschimmelte Feuilleton-Elite unter sich. Warum auch nicht.
powerslave schrieb:
Der beste Literaturnobelpreisträger, für Leute die keine Bücher lesen.
 
Dylan ist der Nobelpreisträger für Leute, die nicht vor abstrakten Bildern stehen und frage, was um Gottes Willen das eigentlich darstellen soll. Man hat den Eindruck, einige haben sich vorschnell darauf festgelegt, sowas sei keine Literatur und nun Probleme, die Stellung zu halten.
 
Schnabelrock schrieb:
Dylan ist der Nobelpreisträger für Leute, die nicht vor abstrakten Bildern stehen und frage, was um Gottes Willen das eigentlich darstellen soll. Man hat den Eindruck, einige haben sich vorschnell darauf festgelegt, sowas sei keine Literatur und nun Probleme, die Stellung zu halten.

Naja, Dylan's Texte sind ja auch ganz überwiegend kryptisch genug, um lange "davor zu stehen und sich zu fragen, was sie eigentlich bedeuten"! ;-) und gerade das macht sie ja auch aus!; und nur, weil hohe Poesie in vermeintlich einfache Melodien verpackt ist, muss es ja allemal keine einfache Poesie sein.... sein Über ein Leben lang geschaffenes Werk wird vermutlich auch den Literatur-Nobel-Preis selbst überdauern! Aber anyway und btw.: hat jemand hier im Forum die Übersetzung von Gisbert Haefs - ist leider im Moment vergriffen.... :( und könnte mir ein jpg der Übersetzung von "tangled up in blue" via PN schicken? Ich arbeite im Moment an einer Übersetzung/ Interpretation dieses vermeintlich eher einfachen Textes und wäre um Anregungen sehr dankbar!

Lguli
 
Dr.Dulle schrieb:
eher einfach ......? :roll:

http://songmeanings.com/songs/view/57315/#comments

jepp, das ist eine der Seiten, auf denen ich nun schon mehrere Tage unterwegs bin, während sich die Sekundärliteratur vom Kindler bis zu Dante-Reklams und Rimbaud und was noch alles immer weiter stapelt...

Ich hab´ nie behauptet, dass die Interpretation "eher einfach" ist! ;-) sondern nur der vordergründig zu übersetzende Text; da sieht´s slangmäßig bei Herrn D. in anderen Texten weitaus wüster aus! ;-)
 
Lol:
http://www.completemusicupdate.com/article/bob-dylan-still-quiet-on-nobel-win-organisers-warn-he-may-lose-prize-money/
 

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