Üben mit falschen Tönen - keine Noten, kein mp-3

E

erniecaster

Power-User
19 Dez 2008
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Hallo!

Inspiriert von den Beiträgen von Uli und dem Pfälzer habe ich einen uralten Text von mir mal ausgegraben, den ich hier einfach nochmal reinwerfe. Los geht´s:

Beim Autofahren gibt es Schleuderkurse und Bremstraining. Nicht um zu schleudern oder um bei voller Fahrt zu bremsen sondern um für den Fall des Falles gewappnet zu sein. Der Fall des Falles ist ein falscher Ton im Solo. So ein richtig falscher Ton, der so überhaupt nicht in die Tonart passen will und noch nicht einmal als Jazz durchgeht. Ein so falscher Ton, dass mehr als die Hälfte des Publikums merkt, dass er falsch ist. Und wir als der Gitarrenspieler haben es auch gemerkt. Was jetzt? Das Solo ist ins Schleudern gekommen, jetzt heißt es gegenlenken.

Ziemlich sicher ist ein passender Ton in der Nähe - einen Bund hoch oder runter. Wir haben folgende Möglichkeiten:

1. Bending nach oben
2. Hammering nach oben
3. Slide nach oben
4. Pull-off nach unten
5. Slide nach unten
6. Benutzung des Vibratohebels
7. aushaken


Genug gelabert, jetzt meine Übung. Ein Backing, etwas Langsames am besten und harmonisch möglichst einfach. Ein schönes Lick spielen und jetzt mal bewusst daneben greifen. Autsch. Rettungsmaßnahme 1. Bending nach oben. Zwei Hürden sind hier zu nehmen. Erstens muss das Bending auf einem richtigen Ton enden und das zweitens bitteschön auch noch im Timing. Jetzt foppen wir das Publikum, indem wir den nächsten Ton ganz bewusst wieder einen Halbton zu niedrig greifen und wieder auf einen richtigen benden und den nächsten vielleicht auch noch. Jetzt wirkt es hoffentlich, als wäre das von Anfang an alles so gewollt gewesen. Genauso geht das mit Hammering eines Halbtons nach oben oder Pull-off eines Halbtons nach unten.

Beim Sliden kommt es nach meinem Geschmack besser, nicht nur einen Halbton rumzurutschen sondern eine richtige Strecke. Ob hoch oder runter sliden, ist eine Frage, wo man gerade auf dem Hals unterwegs ist. Aber auch hier gilt: Der Zielton muss natürlich dann "richtig" sein und das auch noch im Timing. Dann wieder von einem falschen Ton aus anschlagen, wieder auf einen richtigen sliden, nochmal und dann vielleicht fixen Lauf hinterher und die Muckerpolizei schiebt beeindruckt die Unterlippe nach vorne...

Das Prinzip sollte klar sein, für den Vibratohebel muss ich das ja wohl nicht nochmal erklären, oder?

Bleibt die laufende Nummer 7. "Aushaken". Noch einen falschen Ton hinterher. Diese Mal bitte auch bewusst im Timing daneben! Und so richtig, richtig, richtig viele Töne so daneben wie es geht, Two-Hand-Tapping auf allen Tönen dieser Welt und denen dazwischen, Mikroständer über die Saiten sliden, wilde Hebel-Attacken, Gitarre hochwerfen, Gitarre umdrehen und mit links spielen, grinsen und ab wieder auf richtige und schöne Töne.

Scheint ganz einfach zu sein, oder? Eben mal hoch oder runter rutschen, bißchen Saiten ziehen oder eben was tappen oder sich völlig zum Horst machen. So einfach ist es aber nicht, aus einem falschen Ton einen richtigen zu machen. Bei dem falschen Ton wie bis jetzt beschrieben, ist nämlich nur die Tonhöhe erkennbar falsch. Gibt aber noch andere Sachen, die man furchtbar falsch machen kann. Einen "richtigen" Ton machen auch andere Dinge als nur die Tonhöhe aus. Erstens Timing. Wenn ein Ton im Timing irgendwo im Nirvana ist, dann ist das schon ziemlich blöd. Zweitens der Ton selbst. Wenn der nicht so gespielt ist, wie er gemeint ist, kraftlos, unentschlossen, halbherzig und unkonzentriert, dann bringt es das nicht.

Das Tolle an der Übung ist, dass man sehr schnell merkt, dass ein Ton, der nur in der Höhe falsch ist, mit den Maßnahmen 1. bis 7. ganz einfach zu reparieren ist. Bei einem Ton, bei dem weder Höhe noch Timing noch Kraft stimmen, ist es verdammt schwer, noch die Kurve zu bekommen. Hey - wenn der Nebeneffekt dieses Notfalltrainings jetzt ist, immer auf richtiges Timing und Kraft im Ton zu achten, dann bringt das wirklich was.

Probiert es mal aus!

Gruß

erniecaster
 
erniecaster schrieb:
Bei einem Ton, bei dem weder Höhe noch Timing noch Kraft stimmen, ist es verdammt schwer, noch die Kurve zu bekommen.

Da hilft nur das uralte Heilmittel: Spiel's noch einmal Sam.

Im Klartext: Den falschen Ton im falschen Timing wiederholen. Notfalls zwei- dreimal, bis jeder glaubt, das es Absicht war und man sich soweit gefangen hat, dass man einen gescheiten Weg von diesem Ton aus zurück zum Song findet.
 
Pfaelzer schrieb:
Ich muss leider der Geschichte widersprechen, dass die Suche um einen Halbton nach oben oder unten immer erfolgreich ist. Es ist imho besser und musikalischer, den "falschen" Ton in einen akkordeigenen Ton (also Grundton, Terz, Quint oder Septim des Akkordes) aufzulösen...
p

Nehme ich zu den vier Tönen des Akkordes noch die drei leitereigenen (Sekund, Quart und Sext) hinzu, dann verbleiben noch 5 "richtig" falsche Töne

b9
die "andere" Terz
verm. Quint
überm. Quint
die "andere" Septim.

Diese fünf Töne lassen sich per Halbtonschritt alle in einen Akkordton auflösen.

Dass es spannungstechnisch schon falsch sein kann, eine Quart auf einer betonten Zählzeit zu spielen, ist ein anderes Thema.
 
Es gibt noch die Variante, dass man den falschen Ton zum "Umzingeln" des richtigen Tons benutzt.
Sprich: Es soll ein A gespielt werden, tatsächlich greift man das As. Na gut, dann folgt hinterher das a# gefolgt von richtigen Ton, dem A.
Und das setzt man dann z.B. über die vom Pfälzer genannten arkkordeigenen Tönen fort, mit Blick auf den auch vom Pfälzer erwähnten Spannungsbogen.
Allerdings braucht man dann auch die Zeit dazu.

Meine sonstige Meinung dazu: Mal so richtig daneben zu sägen, ist mir mittlerweile ziemlich Wurst. Kommt in den besten Familien vor.
 
Hallo!

Pfaelzer schrieb:
Ich muss leider der Geschichte widersprechen, dass die Suche um einen Halbton nach oben oder unten immer erfolgreich ist. Es ist imho besser und musikalischer, den "falschen" Ton in einen akkordeigenen Ton (also Grundton, Terz, Quint oder Septim des Akkordes) aufzulösen, was eben den oben angesprochenen Spannungsbogen ergibt.

So lange ich mich in harmonisch relativ überschaubaren Regionen aufhalte, bleibe ich bei meiner These, dass "einen Bund weiter" einigermaßen sicheres Terrain ist.

Nehmen wir doch mal eine stumpfe C-Dur-Tonleiter und schauen uns die auch noch auf einer Klaviatur an (was im übrigen bei allen Fragen der Harmonielehre eine gute Empfehlung ist). Alle weißen Tasten sind vielleicht gerade musikalisch nicht unbedingt eine Offenbarung und geschmacklich auch nicht erste Wahl aber so richtig derbe falsch sind sie nicht. Landet man jetzt im Eifer des Gefechts auf einer schwarzen Taste, ist das entweder musikalisch und geschmacklich wirklich cool oder schlicht falsch.

Links und rechts daneben, einen Halbton oder einen Bund entfernt aber ist die Taste weiß und das verspricht schon mal, dass man nicht total doof aussieht.

Es stimmt natürlich, dass man vom falschen Ton besser in einen Ton des gerade verwendeten Akkords manövriert. Das ist dann aber schon Ballett der Königsklasse und hier geht es nur darum, einigermaßen unbeschadet wieder auf den eigenen Füßen zu landen.

Natürlich ist schon der Begriff des "falschen Tons" einer, über den man lange diskutieren kann. Die Idee, zu Übungszwecken mal einen "falschen" Ton zu spielen, hat aber gerade dadurch Charme, dass man die erstmal suchen muss. Abfallprodukt dieser Übung ist also, sich mit Tonmaterial auseinander zu setzen. Außerdem lernt man, dass so ein "Gelber" dazwischen gar nicht so dramatisch ist, man davor keine Angst haben muss und schon spielt man entspannter.

Gruß

erniecaster
 
Wenn man den harmonischen Verlauf und die Struktur des Stückes kennt, dann ist es keine Königsklasse zu einem akkordeigenen Ton zu springen, sondern das sind Grundlagen.

Wie findet man so einen akkordeigenen Ton? Man greift den entsprechenden Akkorde und sucht sich spontan einen aus. Oder zwei. Oder drei. Jedenfalls ist man damit auf der sicheren Seite.
Am besten lernt man die Begleitakkorde in verschiedenen Lagen, damit man so eine Dreiklangsrettungsinsel zur Orientierung überall auf dem Griffbrett findet.

Ansonsten ist der Ansatz, nen Halbton rauf oder runter zu rutschen sinnvoll, sofern man damit nicht so ungewohnt phrasiert, dass man mit dem neuen Ton schon wieder nen halben daneben liegt. ;) Da rutscht man dann solange weiter, bis man auf dem akkord- oder passenden leitereigenen Ton landet.
Einfach mal nichts spielen, ist übrigens auch okay.

Solange man hört, dass da was nicht ganz stimmt, ist das schon die halbe Miete.

Ansonsten: jeder verspielt sich. Auch die "ganz Großen". Gibt ja mehr als einen Grund, dass Bootleg-Aufnahmen nicht erwünscht sind ...

viele Grüße,
der StratDrache
 
frank schrieb:
Meine sonstige Meinung dazu: Mal so richtig daneben zu sägen, ist mir mittlerweile ziemlich Wurst. Kommt in den besten Familien vor.

Oder, um Stimmen der Sommesession zu rezitieren:

"Was ist schon ein Halbton unter Freunden?"

:)

Ich finde, es gibt kein Patentrezept (für mich). Es kommt auf die Situation, das Stück und die eigene Stimmung (mental, nicht instru-mental :cool: ) an, wie ich damit umgehe.

Gruß, Micha
 
Moin,
der wichtigste Aspekt bei derartigen Übungen ist für mich gar nicht die Frage wie ich da wieder rauskomme.
Ich übe sowas durchaus absichtlich (damit es nicht kopfgesteuert ist, einfach Augen zu bei anspruchsvolleren Lagenwechseln, dann landet man zuweilen schonmal auf dem falschen Gleis)
Warum mach ich das ?

Zwei für mich wichtige Regeln:

1: der krumme Ton darf mich nicht rauswerfen. Passiert, also nutzen um etwas draus zu machen, das im Songkontext nutzt.

2: Anschlagsfehler, also an sich der richtige Ton, aber entweder mit Greifhand oder Anschlagshand versemmelt. Da gilt für mich: der verlorene Ton ist eben ein verlorener Ton.
Einfach im musikalischen Zusammenhang und Timing weiterspielen, ohne den Haker korrigieren zu wollen.

Von daher ist die Übung vom Ernie sinnvoll, weil es zumindest das Bewusstsein schärft und Sicherheit gibt, auch mal nach einem Totalversemmler nicht mit ´ner Panikattacke von der Bühne zu rennen, sondern einfach was draus zu machen
 
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