Bäckereien krümmen die Zeit!

B

Banger

Guest
Liebe Mitstreiter in den Gefechten des Alltags,

es dürfte ja jedem bekannt sein, dass die Geschwindigkeit, in der die Zeit vergeht, sich antiproportional zur noch verbleibenden Zeit verhält. Man kennt das Phänomen, wenn Prüfungen anstehen oder man versucht, noch vor Geschäftsschluss die Ladentüre zu erreichen oder rechtzeitig zum Stichtag die Einkommenssteuererklärung zu verfassen.
Kommen auch noch andere Faktoren (Menschen, die im Weg stehen, Staus oder dergleichen hinzu), verändert sich die gefühlte eigene Geschwindigkeit gegenüber derjenigen der verstreichenden Zeit auch noch erheblich zum eigenen Nachteil.

Ganz extrem kommt dieser Zusammenhang zum tragen, wenn ich eine Bäckerei betrete. Je näher diese sich in der Sichtweite einer Straßenbahnhaltestelle befindet, desto stärker. Schlimmer noch, wenn man sogar die Anzeige mit den geschätzen Minuten bis zum Eintreffen der Bahn im Auge hat.

Da ich ja ein eingefleischter "kurz-vor-knapp-Aufsteher" bin und dies den lokalen Belegte-Brötchen-Versorgern zum wirtschaftlichen Vorteil wird, ergeht es mir fast jeden Morgen ähnlich. Überraschend ist hierbei die fast 100%ige Übereinstimmung zwischen der Bäckerei an meiner Starthaltestelle sowie beim Umsteigepunkt in der Innenstadt: man betritt den nicht allzu großen Laden, in dem sich, ob Kunden anwesend sind oder nicht, in der Regel zwei bis drei Angestellte dem fröhlichen Plausch oder sonstigen Interessen hingeben, der sich nicht (oder nur unter vernichtensten Blicken) durch ein "Guten Morgen!", "Ich hätte gerne..." oder gar ein Räuspern unterbrechen ließe. Ja, ich wurde sogar schon von einer rosinenbrötchenkauenden Backwerkfachverkäuferin während der Nahrungsaufnahme bedient - soviel Pragmatismus kennt man eigentlich nur aus Frittierbuden oder Kneipen, wo der Wirt sich hinsichtlich des Getränkekonsums solidarisch mit der Kundschaft zeigt.
Als absolute Geduldsprobe erweist es sich dann, wenn man die Damen hinten im Laden gackern hört, währenddessen eine weitere Butter-und-Hefe-Ingenieurin ein Tablett mit Backwerk nach vorne bringt und in aller Seelenruhe die Ware in die Auslage legt, einen dabei aber entweder geflissentlich ignoriert oder auf die Kollegin verweist, die mich gleich (Oh Optimismus, Du trügerischer Schalk!) bedienen wird - man kennt dieses Verhalten als Analogie in der Gastronomie, wenn einem ein "Ist nicht mein Tisch!" entgegenschallt.

Nun stehe ich da, mir der Preisgestaltung bewusst und gut vorbereitet mit dem abgezählten Geld in der Hand, und höre schon die Bahn heranbimmeln. Mit nervösem Blick durch die Fensterscheibe gellt mein Begehr der sich nun endlich diffus materialisierenden Bedienung entgegen: "Zwei Brötchen, bitte, einmal Kochschinken, einmal Käse!", vobei ich demonstrativ unruhig immer wieder zur Haltestelle schaue und "Bahn, Bahn..." murmele.

Vor meinem geistigen Auge spielt sich ein profan einfacher und somit von beiden Seiten gutgeheißener marktwirtschaftlicher Vorgang ab: Die gute Frau nickt, schnappt sich eine Tüte, wirft die Brötchen herein wie geheißen, reicht sie mir über die Theke und nimmt dankbar lächelnd das abgezählte Geld entgegen - ein Vorgang von höchstens 10 Sekunden.

Doch dann greift das bäckereieigene Timestretching bitterböse zu. Mit hohlem Blick und mechanischem Lächeln wiederholt der Hefezombie meine Bestellung ("Jagenau, Kochschinken, Käse!", fliegen mir die Worte zwischen den Lippen hervor) gedehnt und im leiernden Sub-Bass und lässt den Blick ausgedehnt über die Auslage schweifen, ohne Ziel, in der Hoffnung, durch puren Zufall die Objekte meiner Begierde in die Sichtlinie zu bekommen und positiv mit einem verwaschenen Bild, welches sich mit den Worten "belegte Brötchen" vage in ihrem mehlgeplagten Hirn abgelegt hat, zu verifizieren.
Eine Spinne beginnt in der berechtigten Hoffnung, dass sie mühelos sieben Generationen großziehen kann, bevor ihr die Behausung geraubt und in die Brötchentüte gesteckt wird, mit dem Netzbau, beginnend an einer diebisch hervorgrinsenden Scheibe Salami bis hinüber zu dem von mir avisierten Kochschinken. In Gedanken verdrücke ich ein kleines Tränchen ob der Trauer, dass ich die Einschulung meiner ersten drei Kinder wohl verpassen werde.
"Kochschinken", murmelt das Sauerteigmonster, als sie das erste Brötchen nach einem aufwändigen und kunstvollen Kraftakt gegen die Gravitation in die Tüte wuchtet, "und Käse".

"Gleich habe ich es geschafft", denke ich, während mein silbergrauer Bart beginnt, den Fußboden zu berühren. Während ich überlege, was sich wohl kunstvolles mit meterlangen Fingernägeln anstellen ließe, fällt der Bedienungsbrocken auch noch spontan - wobei "spontan" hier in einem völlig artfremden Kontext steht - der Amnesie anheim, sinniert über die Brötchenpreise, fragt ein Pendel um Rat und drückt anschließend vor Anstrengung stöhnend eine zufällige Reihenfolge an Zahlen in die Registrierkasse, deren Summe, mit dem Tagesdatum multipliziert und durch den Winkel des Mondstandes geteilt, abzüglich der Anzahl Rosinen in einem Mürbchen, überraschend genau mit dem Betrag der mittlerweile vom Rost zerfressenen Münzen in meiner zittrigen Hand übereinstimmt, die ich ihr nun in die Opferschale werfe und im Gegenzug nach eingehender Überprüfung, abermaligem Auspendeln und Inhilfenahme der Telefonauskunft die begehrte Brötchentüte erhalte.

Mit zu Staub zerfallenden Knochen erreiche im im allerletzten Augenblick die Ausgangstür, wo mich blitzartig die Normalzeit einschließlich der soeben abfahrenden Bahn einholt. (Falls beliebt, sei dem Leser an dieser Stelle ein abweichender Handlungsstrang nahegelegt, in dem die Bahn sich Sekundenbruchteile, bevor ich den Türöffnungsknopf drücken kann, unwiderruflich in Bewegung setzt.)

Seufzend lasse ich mich auf die Wartebank nieder, kaue an einem Brötchen und warte auf die nächste Bahn, die, wie ihr von der Natur (oder Rheinbahn-Leitstelle) geheißen, von der verbleibenden Zeit das 1,2-fache Verspätung hat - aber das ist ein anderes Thema.
 
:lol: Jaaa! Hurra! :lol:


......
Bedauerlich nur, dass die Sauerteigschubse das Wort zwar in den übersichtlichen Hohlraum zwischen ihren Ohren eingespeichert, aber einer inneren Stimme folgend dann doch, während Du bang auf das Herannahen der Bahn achtestest, einTomaten-Mozarella Brötchen eingepackte, weches Dir zwischenteitlich den Rest des Backwerks zu einem unschönen Fruchtwasser genässten Mehlklops verquollen hat. ........

Nein, lieber Andreas.
Zum Kauf von Backwerk ist eine Bäckerei der falsche Ort. Aber ich könnte mir vorstellen, während einer Bestellung dort meine Steuererklärung zu machen, wenn die Fristen mal wieder überschritten sind.
Auch ließe sich in der gestreckten Zeit eine Wirtschaftskriese oder ein Weltkrieg bequem überstehen.
Allerdings sollte man nicht vergessen, etwas zum Essen mit zu nehmen. ;-)
 
Sehr gut, lieber Banger, :clap: :clap: :clap:

mich interessiert jetzt nur noch, was Du geraucht hast. :lol: :lol: :lol:
 
hey banger, grossartig geschriebene story!

ähnliche phänomene sind dann noch zu beobachten:
an der tankstelle (vor allem im morgendlichen berufsverkehr (auch an meiner eigenen ;-) ),
im kinderzimmer meines sohnes in der früh beim anziehen,
auf der bühne wenn der keyboarder verkabelt,
beim hochstarten eines windoof rechners währen ein kunde auf die information wartet.....

lg
da auge
 
Super Text! Danke!

Jetzt geh' ich erst mal Brötchen (naja, hier bei den Sprachnazis Semmel - sonst gibt es nichts) kaufen ;-)

greetz
univalve
 
...ich brech zusammen... :lol: großartige Lese...
und so bekannt, mit etwas anderer Handlung... ;-)
das gibt :isso!:

:top: :top: :top:

Greets
PIT... :lol:
 
W°°":vb3b7q1q schrieb:
...ein Tomaten-Mozarella Brötchen eingepackte, weches Dir zwischenteitlich den Rest des Backwerks zu einem unschönen Fruchtwasser genässten Mehlklops verquollen hat.
Jaa! Genau! Immer dieses Pseudogemüse auf den Brötchen, welches eine Aufbewahrung in der Tüte über einen längeren Zeitraum als 20 Minuten unmöglich macht und dazu auch noch den Rest der Tasche vollmatsch! Un-glaub-lich!

frank":vb3b7q1q schrieb:
mich interessiert jetzt nur noch, was Du geraucht hast.
Der Alltag ist die stärkste Droge. ;-)
 
Hervorragend, ergussreiche Lektüre...so fängt der Samstag gut an :lol:

Wir sollten einen Marsch auf die Bäckerei-Innung machen, sie anektieren und dann dieses Gemüse abschaffen und für mehr zwiebeln plädieren :cool:
 
Bierschinken":441uf3ls schrieb:
...und dann dieses Gemüse abschaffen und für mehr zwiebeln plädieren :cool:

Gemüse, muss das sein?
Kann man da nicht das Zeug einbacken, dass der Banger geraucht hat? Dann ist einem nach dem ersten Happen egal, wann die Bahn kommt und Zeit wird wieder zu einem relativen Begriff.
 
Boa ich bepiss mich vor lachen :´( Banger du bist der größte!!!! :-D
Naja insgesamt schon komisch dass ich bei den Bäckerbesuchen immer viel zu viel zeit habe und mir dann denke warum es denn so schnell geht.
 
Banger":w0u21rll schrieb:
Liebe Mitstreiter in den Gefechten des Alltags,

es dürfte ja jedem bekannt sein, dass die Geschwindigkeit, in der die Zeit vergeht, sich antiproportional zur noch verbleibenden Zeit verhält.

lieber Andreas .
grunsätzlich stimmt det schon...


aber selbst, wenn wir Musikanten im Parkverbot...Schlag auf.."abgelaufene 'Uhrzeit" mit der Politesse sekundenmässig den Blick wexeln.der sie innehält:..
und uns die Zeit gibt....einmal ums Audo rum...die Gitarre ausm Koffäraum zu schnappen...

....und Howard Carpendales "Da nahm er seine Gitarre" zu plärren

sind diese Theorien...zwar nett ..jedoch ungenauer, grauer Alltag von gestern

und/aber uns gespartes Geld...im Falle des Erfolgs..für 009er saiten gewiss!

aber das nur am Rande erwähnt
(ich bin doof...ich mach Musik)

Falls!
dies alles nichts nutzt
Sei Bäckermeister.back dir deine eigenen Brötchen
und umschwirre se mit....;

http://www.youtube.com/watch?v=HqxPmGaKfso

da ihr euch eigentlich nicht gar nicht kennt....hast du jetzt die Zeit gekrümmt!
da schliesst sich der Halbkreis wieder!
(aber mach ein wichtiges Gesicht dabei.sonst nimmt sie dir es nicht ab!")


greez
 

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